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Normalerweise liegt eine Revolution vor uns und kündigt sich mit »Getöse« an. Die algorithmische Revolution liegt hinter uns und niemand hat sie bemerkt. Umso wirkungsvoller ist sie gewesen. Es gibt nämlich keinen Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens mehr, der nicht von Algorithmen durchdrungen ist. Aufgrund des universalen Einsatzes des Computers in allen Bereichen der Kulturtechniken, von der Architektur bis zur Musik, von der Literatur bis zur Bildenden Kunst, vom Verkehr bis zum Management, haben sich in den letzten 50 Jahren algorithmische Entscheidungsprozesse durchgesetzt. Die algorithmische Revolution setzt jene Sequenzierungstechnik fort, die mit der Entwicklung des Alphabets begann und mit dem Genom-Projekt vorläufig endet. Die von ihr hervorgerufenen Veränderungen sind gewaltig, so wenig sie auch wahrgenommen worden sind. . .

 

Zitat aus Die Algorithmische Revolution, Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Karlsruhe, 2004 - 2005. Ausstellungkatalog, Seite 1. www.zkm.de

Roman und die Algorithmische Revolution

Die Grundlage von Romans Herangehensweise an die algorithmische Kunst ist die Überzeugung, dass ein Programm zum Zeichnen einer Musikpartitur, einem Architekturplan oder einer Choreographie vergleichbar ist. All diese verschiedenen Codes spiegeln, wenn sie funktionieren, jeweils die ästhetischen Präferenzen desjenigen wieder, der sie hervorbrachte.

Er war sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrung bewusst, dass es eine Brücke zwischen der rationalen, seelenlosen Natur des Programms und der angestrebten ästhetisch zufriedenstellenden Erscheinungsform, zu schlagen galt. Er wusste, dass ein formgebendes Verfahren nicht erfolgreich sein konnte, ohne der Beziehung zwischen dem Medium und dem kodierten Verfahren besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies erforderte eine profunde Kenntnis und ein ausgeprägtes ästhetisches Verständnis im Umgang mit Papier, Tinte, Stiften und Computer.

Der Code musste mit dem Wissen um das Verhalten der Maschine und des Tintenstifts auf unterschiedlichen Papieroberflächen und bei verschiedenen Geschwindigkeiten geschrieben werden. Alle Parameter resultieren in der ästhetischen Qualität des Kunstwerkes.

Roman beschäftigt sich seit den 1980er Jahren, trotz zahlreicher Enttäuschungen, intensiv mit der Verwendung von algorithmischen Form-Generatoren, der Viskosität von Tinte, Stiftspitzen und Papieroberflächen. Bereits seit 1949 hatte er sich auch für die ästhetische Qualität visueller Phänomene in Bezug auf Texturen, Oberflächen und Farbe interessiert. Eine Trennung von Form und Erscheinungsbild war für ihn undenkbar.

Die Pearl Park Scriptures 2004 – 2005

Jeden Morgen unternimmt in der Nähe seines Hauses einen Spaziergang im Pearl Park, an einem See in Minneapolis und geht seinen Gedanken nach, was oft einen Einfluss auf seine Arbeit im Atelier hat. Auf diese Weise entstanden die Pearl Park Scriptures, die Arbeit des letzten Jahres (2004 – 2005) widerspiegeln. Ihr Format bezieht sich auf ausgeschmückte mittelalterliche Schriften. In einigen Blättern erinnert zusätzlich aufgelegtes Blattgold an die besondere Qualität eines heiligen Textes.

Jede Arbeit besteht aus einer farbigen Zeichnung, der eine Reihe von Schriftzeichen gegenüber gestellt ist, die von links nach rechts zu lesen sind. Bei einigen Blättern sind es bedeutungslose Zeichen, die ohne eine Aussage aneinander gereiht sind. Andere Zeichen basieren auf Texten der Genesis, von Darwin, Lao Tse und den Apache-Indianern Nord-Amerikas. Bei der Auswahl der Texte war Roman daran gelegen, Zusammenhänge in verschiedenen Kulturen zum Thema Lernen und Spiritualität herzustellen.

Die Auswahl der Texte war von Romans eigenem spirituellen Weg bestimmt. Dazu gehörten Schriften ohne inhaltliche Aussage, wie sie in einigen Zen Meditationen und in den „sinn-losen“ Texten von Dada und Neo-Dada Künstlern des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Für jeden Text wurde ein eigenes „Zeichen-Alphabet“ entwickelt. Das „Alphabet“ der Zeichen für den sinn-losen Text ist ähnlich wie eine Sprache aufgebaut.

Wie in allen bisherigen Arbeiten von Roman sind auch die jüngsten nicht gegenständlich und wurden ausschließlich aufgrund ihrer Form ausgewählt. Er konzentrierte sich auf Formen mit leicht erkennbaren Strukturen in komplementären Farben. Form und Text bilden eine Einheit und sind aufeinander bezogen. In der Zeichnung „L“ hat die blau-gelbe Form Ähnlichkeit mit einem lebendigen Organismus und bezieht sich inhaltlich auf den Text von Darwin.

Die Zeichnungen bestehen aus Hunderten kaum sichtbaren Tintenstrichen. Der Zeichenstift muss über Stunden hinweg gleichmäßig und präzise arbeiten. Wie ein Bildhauer mit dem Meißel auf dem Stein seine Spuren hinterlässt, hinterlassen die Tintenstriche ihre Spuren auf dem Papier. Diese Felder zarter Tintenstriche gehen über das hinaus, was eine menschliche Hand leisten kann - ihre Präzision und gleichmäßige Verteilung zeigen die Schönheit der künstlerischen Kreation. Sie zeugen aber auch von der Geduld des Künstlers, der aufgrund des Versagens der Technik zahlreiche Fehlschläge hinnehmen musste.

Die Pearl Park Scriptures fassen Romans mehr als zwanzigjährige Auseinandersetzung mit Codes zusammen. Sie stehen für die Annäherung des Experimentierens mit neuen Formen, programmierten Inhalten und der menschlichen Fähigkeit zu kommunizieren. Sie mögen dazu führen, dass wir über die Codes die wir täglich benutzen, nachdenken - nicht nur in Bezug auf Sprache, sondern auch in Bezug auf Gesten oder sogar auf unseren Kleidungsstil. Neben diesen konkreten Aspekten des Lebens sind sie ebenso Ausdruck der Programme unserer Gene, die das Leben an sich hervorbringen. Dadurch werden sie zu Ikonen, in denen sich die geheimnisvolle Natur des Menschen, der Erde und des Kosmos widerspiegelt.

Program Coordinator
FISEA ’93: Fourth International Symposium on Electronic Art

Übersetzung: Wolf Lieser, 2005
[DAM] Berlin

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